Moritz Schlick an Albert Einstein

Rostock, d. 29. August 1920

Orléans-Str. 23

Lieber, hochverehrter Herr Professor,

verschiedene kleine Anlässe sind schuld, dass ich mir wieder einmal die Freude machen darf, einige Zeilen an Sie zu richten. Ich will mich aber recht kurz fassen, um Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen.

Zu Anfang des Monats ist unser hiesiger Vertreter der theoretischen Physik gestorben: R. H. Weber, ein lieber Mann, den Sie, wenn ich nicht irre, in unserem Hause auch kennen gelernt haben. Sein Lehrstuhl (ein Extraordinariat) muss nun wieder besetzt werden, und Sie können sich denken, dass ich wegen der engen Beziehungen meiner Philosophie zur Physik aufs höchste daran interessiert bin, dass wir eine recht tüchtige, in den modernen Problemen bewanderte Kraft herbekommen. Als Privatdozent habe ich natürlich mit Berufungsangelegenheiten offiziell nicht das geringste zu tun, das schliesst aber nicht aus, dass ich in gelegentlichen Gesprächen mit den massgeblichen Herren nicht doch einen kleinen Einfluss auf die Beschlüsse der Kommission ausüben könnte, wenn ich mich dabei auf die hervorragendsten Autoritäten berufen kann. Deshalb wäre ich Ihnen überaus dankbar, wenn Sie mir durch ein paar Zeilen mitteilen würden, wer wohl die geeignetsten Persönlichkeiten für diese Professur sind. Vielleicht kann ich auf diese Weise ein klein wenig dazu beitragen, dass die theoretische Physik in Rostock ordentlich in die Höhe kommt. Den Weggang von E. Cohn nach Freiburg habe ich sehr bedauert. In der Mathematik ist hier schon etwas mehr Leben, seit wir im Frühjahr einen zweiten Ordinarius für das Fach herbekommen haben (Haupt), einen sehr netten Menschen.

Da ich gerade von Personalfragen spreche, so möchte ich nicht versäumen, Ihnen privatissime von einem kleinen Gerücht Kenntnis zu geben, das mir im vorigen Monat zu Ohren gekommen ist, dessen Richtigkeit ich aber in keiner Weise nachprüfen kann. Danach soll an der deutschen Universität in Prag die Absicht bestehen, die philosophische Fakultät zu teilen und in der naturwissenschaftlichen Fakultät einen besonderen Philosophen anzustellen. Man soll dabei sogar auch an mich schon gedacht haben. Dies wäre wahrhaft herrlich! Denn in der geographischen Lage und im geistigen Leben dürfte Prag vieles vor Rostock voraus haben. Aber, wie gesagt, es handelt sich um ein Gerücht, von dem ich sonst zu niemand gesprochen habe (auch nicht zu meiner Frau, um ihr ev. eine Enttäuschung zu ersparen).

Nun habe ich noch etwas, ohne das ich mir einen Brief an Sie überhaupt nicht vorstellen kann, nämlich Dank, warmen, herzlichen Dank, zu dem Ihre Güte wieder einmal reichlichen Anlass gab. Sie waren so freundlich, mich dem Berliner Tagblatt für dessen Almanach zur Abfassung eines Artikels über die Relativitätstheorie zu empfehlen. Ich bin natürlich auf die Aufforderung der Redaktion sofort eingegangen und habe auf diese Weise durch eine Arbeit von 8 Tagen ein ganz hübsches Sümmchen verdient, das in Vorkriegszeiten zu einer schönen Ferienreise für meine ganze Familie gereicht hätte. Ich hoffe nur, dass Sie mit der Darstellung auch zufrieden sein werden. Das schwierigste war, der Forderung der Kürze zu genügen und doch leicht verständlich zu bleiben.

Noch einen weiteren herzlichen Dank für Ihren letzten freundlichen Brief, der mir wieder unendlich wertvoll war! In der Frage der Kausalität des Newtonschen Raumes hat er mich restlos von Ihrer Ansicht überzeugt, und es kommt mir vor, als wenn ich wirklich recht dumm gewesen wäre; ich hatte die Angelegenheit nicht physikalisch genug betrachtet. Aber auch die Anmerkung, die ich in „Raum und Zeit“ über die Frage gemacht, kann ich nun nicht mehr aufrecht erhalten; sie muss fort, wenn dem Büchlein noch eine neue Auflage beschieden sein sollte.

Was muss man jetzt in Berlin erleben, wo die Philharmonie zum Cirkus geworden ist (1) , in dem ein Clown nach dem andern auftritt! Ich weiss, dass Sie lächelnd und völlig unberührt über der Sache stehenaber dazu gehört Seelengröße. Ich muss gestehen, dass ich doch die Fäuste etwas geballt und mich über die Deutschen herzlich geschämt habe, als ich von den Dingen las.

Kommen Sie nicht wieder einmal durch Rostock oder in die Nähe? Es schmerzt uns immer noch sehr, dass wir Sie damals nicht hier sehen konnten. Allerspätestens hoffe ich Sie im Februar zu sehen, wenn Sie dann in Berlin sind; denn ich soll um diese Zeit dort einen Vortrag halten. Meine Frau, die Kinder und ich wünschen Ihnen und den Ihren alles Gute. Mit der Bitte um beste Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin begrüßt Sie aufs herzlichste

Ihr in Dankbarkeit + Verehrung ergebener

M. Schlick