Moritz Schlick an Albert Einstein

Rostock, den 5. Juni 1920

Orléans-Straße 23

Lieber, hochverehrter Herr Professor,

Auf die Gefahr hin, daß diese Zeilen Sie erst nach einigen Irrfahrten erreichen, muß ich Ihnen doch schreiben, denn ich fühle das Bedürfnis, Ihnen den beifolgenden Aufsatz über das Kausalprinzip zu übersenden, bevor er noch erscheint, was in dem nächsten Heft der „Naturwissenschaften“ geschehen wird. Ich versuchte darin, eine Aufgabe zu lösen, auf die Sie mich früher einmal aufmerksam machten; aber ich habe das Gefühl, als wenn Sie manchen Satz in der Arbeit doch nicht billigen würden, und so bitte ich Sie recht herzlich, mir doch die Mängel mitzuteilen, die Sie etwa darin finden.

Die Philosophen-Versammlungen in Halle sind ja nun vorüber. Vaihinger teilte mir mit, daß Sie den Wunsch ausgesprochen hätten, ich möchte doch, wenn möglich, daran teilnehmen, um in der Diskussion über die Relativitätstheorie das Wort zu ergreifen, und als ich sein Schreiben erhielt, war ich auch fest entschlossen, nach Halle zu fahren, wenn die Reise sich durchführen ließe. Dann sah ich aber die Fahrpläne nach und fand die Zugverbindungen äußerst ungünstig. Ich hätte erst Freitag Nacht in Halle sein können, um am Samstag die Als-Ob-Sitzung mitzumachen und dann am Sonntag wieder abzureisen. Ich fürchtete, ich könnte unter diesen Umständen zu ermattet sein, um Ihre Sache mit dem nötigen Schwung zu führen, und dann schien es mir auch wahrscheinlich, daß die philosophischen Verkleinerer der Theorie ohnehin kaum etwas anderes davontragen könnten als eine Blamage. Den Eindruck hatte ich wenigstens, als ich vor einigen Wochen ein Referat über einen Vortrag las, den Kraus in Wien gehalten hatte, und der inhaltlich vermutlich mit dem Vortrag in Halle sich deckte. So habe ich denn der Anziehungskraft des Kongresses widerstanden. Hoffentlich sind Sie nicht böse darüber. Wenn ich einer Zeitungsnachricht trauen darf, die mir hier zu Gesicht kam, soll ja der gegnerische Standpunkt nicht besonders günstig abgeschnitten haben. Ich bat Vaihinger, es möchte einem doch das Wesentlichste schriftlich zugänglich gemacht werden, damit man schriftlich dazu Stellung nehmen könne. (Man kann den krampfhaften Bemühungenbesonders der Kantianerum die Relativität ja mit ziemlicher Ruhe zuschauen, da der baldige Sieg der Wahrheit so völlig sicher ist,) aber natürlich muß man alles tun, um den Kampf möglichst abzukürzen. Es hat mich sehr gefreut, durch Herrn Berliner zu erfahren, daß auch Born sich daran gemacht hat, eine populäre Darstellung der Relativitätstheorie zu schreiben. Darf ich mir bei der Gelegenheit die Frage erlauben, ob Sie schon an die Ausführung Ihres Planes gegangen sind, Ihre Vorlesungen zur Veröffentlichung auszuarbeiten? Wie vielen würden Sie damit eine wahrhaft große Freude machen!

Falls Sie von der englischen Ausgabe von „Raum und Zeit“ kein Exemplar erhalten haben sollten, teilen Sie es mir doch bitte mit, damit ich Ihnen dann gleich das für Sie reservierte Exemplar zusende! In der Zeitschrift für angewandte Psychologie (Bd. 16, Heft 3-6) hat Hans Reichenbach die „Allgemeine Erkenntnislehre“ ziemlich ausführlich besprochen. Er macht auch einige prinzipielle Ausstellungen, von denen ein Teil, wie ich zugeben muß, wirklich Hand und Fuß hat. Zur Zeit bin ich ganz und gar mit einer Arbeit über ethische Probleme beschäftigt und stecke so tief darin, daß ich kaum Zeit finde, etwas anderes zu lesen. Für den nächsten Winter habe ich eine Vorlesung angekündigt: „Einführung in die Gedankenwelt der Einsteinschen Theorie“, und ich freue mich darauf. Wenn es mir nur gelingt, es gut zu machen!

Ich weiß nicht, ob Sie gegenwärtig in Holland, in Berlin oder etwa gar in Norwegen sind. Von Ihrer Absicht, nach Norwegen zu fahren, laß ich heute Morgen in der Zeitung, und mein erster Gedanke war, daß der nächste Weg nach dort von Berlin aus über Rostock führt. Wenn es wahr ist, daß Sie nach dem Norden reisen, und wenn Sie die Route über Warnemünde nehmen könnten, so bitten wir (denn meine ganze Familie schließt sich von Herzen meinem Wunsche an) Sie recht inständig, in Rostock Station zu machen und sich möglichst viele Tage in unserm Hause auszuruhen. Wie herzlich Sie uns willkommen wären, brauche ich nicht erst zu betonen. Falls Sie etwa schon im Norden sind, will ich nur hoffen, daß diese Zeilen Sie noch rechtzeitig genug erreichen, damit Sie, wenn möglich, auf der Rückreise nach Rostock kommen können. Die Reise würde für Sie dadurch gewiß weniger anstrengend, und uns würden Sie wirklich eine reine, große Freude machen. So darf ich hoffentlich mit dem Wunsche auf baldiges Wiedersehen schließen.

Unsere herzlichsten Wünsche für Ihr Wohlergehen begleiten Sie. Meine Frau und Kinder grüßen Sie vielmals, und es schließt sich ihnen an

Ihr dankbarer

M. Schlick