Moritz Schlick an Hans Reichenbach

Rostock, den 25. Sept. 1920

Orleans-Str. 23

Sehr geehrter Herr Kollege,

Ihr Buch über Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori habe ich erhalten, und ich danke Ihnen herzlich für die Zusendung.

Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin: Springer 1920.

Sie haben mir damit eine große Freude gemacht. Zugleich darf ich Sie zu Ihrer hervorragenden Leistung beglückwünschen. Ich habe die Schrift mit Eifer studiert und die Überzeugung gewonnen, daß sie bei weitem das Scharfsinnigste ist, was bisher in erkenntnistheoretischer Absicht über die Relativitätstheorie geschrieben wurde. Ich freue mich natürlich, daß wir in sehr wesentlichen Punkten übereinstimmen, und ich glaube sogar, daß die Übereinstimmung erstens schon jetzt etwas größer ist, als sie Ihnen erscheinen mag, und daß sie zweitens Aussicht hat, sich durch kleine Zugeständnisse noch mehr zu vergrößern. Die Gründe, aus denen ich glaube in einigen Punkten von Ihnen abweichen zu müssen, möchte ich Ihnen gern ausführlich darlegen, denn mir liegt wirklich sehr viel an einer sachlichen Klärung einer Reihe von Fragen, die durch einen Meinungsaustausch gewiß sehr gefördert würde - aber dazu gehört ein sehr langer Brief, und augenblicklich fehlt es mir leider an Muße zu einem solchen. Sobald ich mehr Zeit habe, werde ich ihn aber schreiben, und ich hoffe, daß die Erörterung für beide Teile fruchtbar werden möge. Ich denke, es wird sich bald Zeit finden, aber meinen Dank wollte ich doch nicht bis dahin aufschieben.

Nur noch ein Wort über eine andere Angelegenheit. Ich bin ziemlich gut mit Prof. Révész

Gezá Révész, Psychologe (geb. 9. Dezember 1878 in Siófok, gest. 19. August 1955 in Amsterdam).

aus Budapest bekannt, der zur Zeit in Warnemünde wohnt, und der sich bei Prof. Lipmann über die Habilitationsmöglichkeiten in Stuttgart erkundigt hat. Er interessiert sich für die Sache und hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß er vermutlich in nächster Zeit mit der Bitte an Sie herantreten wird, freundlichst einige weitere Erkundigungen einzuziehen.

Mit kollegialem Gruß

Ihr ergebener

M.Schlick