Moritz Schlick an Albert Einstein

Wien IV, 27. Dez. 1925

Prinz-Eugen-Str. 68.

Hochverehrter, lieber Herr Professor,

vor längerer Zeit waren Sie so freundlich, unserem Comité beizutreten, das sich mit den Vorarbeiten für die Aufstellung eines Mach-Denkmals in einem öffentlichen Park Wiens beschäftigte. Dies Denkmal (eine schöne Marmorbüste auf Granitsockel) soll nun Ende Januar im Rathauspark aufgestellt und enthüllt werden. Die bedeutendste Wiener Zeitung, die Neue Freie Presse, will bei dieser Gelegenheit eine Sonderbeilage zum Andenken an Mach herausgeben, in der sein Werk und seine Persönlichkeit von verschiedenen Seiten beleuchtet werden sollen. So wird ihn ein hiesiger Fachmann als Physiologe schildern, ein anderer als Experimentalphysiker, u.s.w.; ich selbst werde seine Verdienste um die Erkenntnistheorie kurz darzulegen versuchen. Ich möchte Sie nun recht herzlich bitten, auch einen kleinen Beitrag für dieses Sonderblatt zu liefern und mit einigen kurzen Ausführungen zu sagen, was Sie an ihm schätzen und welche Stellung Sie und die Relativitätstheorie etwa zu ihm einnehmen. Ich hoffe von Herzen, dass Sie uns diesen für unsere Zwecke so äusserst wertvollen Beitrag gern verfassen werden und möchte Sie in diesem Falle bitten, das Manuskript bald nach Mitte Januar an Prof. Wolfgang Pauli (Vater von Pauli jun. und mit Mach seinerzeit sehr gut bekannt) zu schicken. Adresse: Wien XVIII, Anton-Frank-Gasse 18.

Sie haben inzwischen gewiss Kenntnis erhalten von dem Brief, den ich kürzlich Herrn Planck auf seine Anfrage (1) betr. Herrn Reichenbach schreiben musste (2) . Es hat mir ganz furchtbar leid getan, dass seine Aussichten in Berlin trotz Planck’s und Laue’s Bemühungen so schlecht waren, und dass es leider auch unmöglich war, hier in Wien einen Platz für ihn zu finden. Ich habe inzwischen nichts mehr über den Stand der Angelegenheit gehört und würde Ihnen daher sehr dankbar sein, wenn Sie mich mit einem Worte darüber unterrichten wollten. Ich würde auch bitten, mir freundlichst mitteilen zu wollen, ob er von dem Wiener Plane etwas wusste, damit ich bei meinem nächsten Brief an ihn weiss, ob ich darauf bezug nehmen soll oder nicht. Gestern war Herr Ph. Frank aus Prag hier, und ich habe ihm Reichenbach angelegentlich empfohlen. Er will ihn für Prag vorschlagen, wo eine neue Lehrkanzel für Naturphilosophie errichtet werden soll.

Der junge Philosoph Carnap, der sich in Wien um die Habilitation beworben hat, und den ich früher Ihrer freundlichen Beachtung empfahl, wird Ihnen inzwischen seine gedruckten Schriften zugesandt haben. Einige von diesen haben noch ein paar schwächere Stellen und ich bitte ihn nicht allein nach den gedruckt vorliegenden Abhandlungen beurteilen zu wollen. Seine neueren Arbeiten, besonders das als Habilitationsschrift eingereichte Buch "Konstitutionstheorie" (3) , das hoffentlich im nächsten Jahr gedruckt wird, stehen auf einem sehr hohen Niveau; das umfangreiche Buch erscheint mir als eine ganz ausserordentliche, schlechthin grundlegende Leistung.

Herr Reichenbach hat vor kurzem in der "Zeitschrift für Physik" 34 [1925], S. 32[-48] eine Arbeit "Über die physikalischen Konsequenzen der relativistischen Axiomatik" publiziert, zu der ich zum Schluss gern einige Bemerkungen machen möchte, weil sie ziemlich deutlich die Grenzen der axiomatischen Methode zu zeigen scheint. Die Ausführungen S. 43 unten ff. sind zwar logisch in Ordnung, zeigen aber m. E. nur, dass die reine Axiomatik zwischen der spez. Rel-Theorie und der Lorentzschen Theorie (mit der Kontraktionshypothese) überhaupt keinen Unterschied finden kann, was mir selbstverständlich erscheint, da die Gleichungen ja in beiden dieselben sind. Der wirkliche Unterschied zwischen beiden Theorien, der eben ein philosophischer und auf dem rein logischen Wege der Axiomatik nicht fassbar ist, wird wohl gerade durch die von Reichenbach verworfene Sprechweise, es handle sich bei Lorentz um eine ad hoc ersonnene Hypothese, recht treffend angedeutet. Denn wenn auch, logisch gesprochen, die spez. Rel-Theorie ebenso viele Grundannahmen machen muss wie die Lorentzsche, so fügen sie sich doch bei der ersteren ganz von selbst in den Rahmen des Relativitätsgedankens ein und die Kontraktionshypothese ist psychologisch tatsächlich nicht ad hoc ersonnen; während sie bei Lorentz-Fitzgerald als ein ad hoc angefügtes Stück auftritt. – Auch die letzten Ausführungen des Aufsatzesüber die mögliche Interpretation der Millerschen Versuchescheinen mir den philosophischen Kern der Sache nicht zu treffen. Wenn durch jene Versuche wirklich bewiesen wäre (was ja gewiss nicht der Fall ist), dass eine bestimmte Richtung (die des "Aetherwindes") ausgezeichnet wäre, so würde man gewiss die relativistische Physik aufgeben, und wenn es auch möglich sein sollte, die Relativität durch Annahme bestimmter "Körperaxiome" aufrecht zu erhalten, so würde man doch diesen Weg nicht einschlagen. Aber hiergegen verhält sich eben die axiomatische Betrachtung indifferent. Es scheint mir daher, dass man daher im ganz strengen Sinne von physikalischen Konsequenzen der Axiomatik eigentlich doch nicht sprechen kann. Die Fragen scheinen mir philosophisch doch wichtig, und ich wäre Ihnen von ganzem Herzen Dankbar, wenn Sie mit einer Zeile mir sagen wollten, ob ich recht habe.

Ihnen und den Ihrigen wünsche ich für das Leben und Schaffen im Neuen Jahr das allerbeste und bleibe in tiefster Dankbarkeit und inniger Verehrung Ihr

M. Schlick