Moritz Schlick an Albert Einstein

Rostock, 9. 10. 1920

Orléans-Str. 23

Lieber, hochverehrter Herr Professor,

in diesen Tagen habe ich mit dem größten Genuß das Büchlein von Reichenbach über Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori (1) gelesen. Die Arbeit scheint mir wirklich ein ganz hervorragender Beitrag zur Axiomatik der Theorie und der physikalischen Erkenntnis überhaupt zu sein. Sie haben sich gewiß auch sehr über die logische Sauberkeit gefreut. In einigen Punkten möchte ich freilich Reichenbach doch nicht ganz recht geben; ich hoffe mich brieflich mit ihm darüber zu einigen, denn die Sache liegt mir wirklich sehr am Herzen. Gerne hätte ich Sie um Ihre Meinung gefragt, aber schriftlich wäre es doch zu umständlich; vielleicht darf ich mündlich darauf zurückkommen, denn ich hoffe zuversichtlich, daß es mir im Winter vergönnt sein wird, Sie einmal wiederzusehen. Reichenbach scheint mir der Konventionslehre von Poincaré gegenüber nicht gerecht zu sein; was er apriorische Zuordnungsprinzipien nennt und mit Recht von den empirischen Verknüpfungsprinzipien unterscheidet, scheint mir vollkommen identisch mit Poincarés „Konventionen“ zu sein und keine darüber hinausgehende Bedeutung zu haben. R’s Anlehnung an Kant scheint mir genau betrachtet nur rein terminologisch zu sein. Auch wegen einer Stelle in dem herrlichen Buche von Born über die Rel.-Theorie, dessen Korrekturbogen ich sah, würde ich Sie später gern um Ihre Meinung fragen. Es handelt sich um die Gegenüberstellung von Materie und Feld (im letzten Abschnitt des V. Kapitels). Ich habe mit Born darüber korrespondiert, und seine Antwort hat mich zwar in bezug auf die Stelle selbst vollkommen beruhigt, aber im Anschluß daran sind mir doch Fragen aufgestiegen, die ich Ihnen wegen der philosophischen Wichtigkeit doch einmal mündlich vorlegen möchte. Über Nauheim habe ich manches Schöne gehört, und herzlich gern wäre ich dort gewesen, aber die Reise schien mir doch gar zu weit von hier. Welche Reise schiene einem jetzt nicht weit?

Mit innigem Danke möchte ich Ihnen widere die Hand drücken. Denn von verschiedenen Seiten spüre ich, daß Sie inzwischen wieder fürsorglich meiner gedacht haben. Durch Ihre Empfehlung erhielt ich Aufforderungen, in Danzig und Harburg Vorträge zu halten, ferner für die Zeitschrift The Monist und für das Berliner Tageblatt Artikel zu schreiben. Aus den Danziger Vorträgen ist nichts geworden, weil die Kasse der dortigen Naturforschenden Gesellschaft mir keine ausreichende Reise-Entschädigung in Aussicht stellen konnte, aber in Harburg werde ich sprechen. Der Artikel für das Tageblatt ist schlecht geworden wegen der erforderlichen übergroßen Kürze, dagegen scheint mir der, den ich gleichfalls infolge Ihrer gütigen Empfehlung für den Mosseschen Almanach verfassen durfte, besser gelungen. Erschienen sind beide noch nicht. Für den „Monist“ zu schreiben, macht mir viel Freude, auch ist mir die Verbindung mit England höchst wertvoll. Wahrhaft herzerfrischend war es zu lesen, was man in England über Sie und Ihre Behandlung durch die Deutschen schrieb. Die Berliner verdienen, daß man ihnen die Wahrheit sagt; ich zittere noch förmlich bei dem Gedanken an die Möglichkeit, daß es den Leuten doch hätte gelingen können, Ihnen den Aufenthalt in Berlin zu verekeln! Kürzlich besucht uns hier Herr Bröse aus Oxford, der „Raum und Zeit“ übersetzt hat und das Freundlichsche Buch. Ein sehr netter Mensch und von höchster musikalischer Begabung. Erzählte ich Ihnen schon, daß ich mich an dem Preisausschreiben des „Scientific American“ für eine populäre Darstellung Ihrer Theorie beteiligt habe? Es hat mich viel Schweiß gekostet, wegen der 3000-Wort-Schranke, aber der Preis ist so enorm hoch (5000 Dollar), daß ich glaube, es selbst bei äußerst geringen Chancen versuchen zu sollen: der Familie wäre gleich für eine Reihe von Jahren weiter geholfen. Übrigens ist augenblicklich eine philosophische Professur in Erlangen frei, und ich teile es Ihnen pflichtgemäß mit, für den Fall, daß Sie dort Verbindungen haben sollten. Ich glaube aber, daß dort nur ein Historiker der Philosophie in Frage kommt. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie in meinem letzten Briefe mit der Frage nach Physikern belästigte, die etwa als Nachfolger unseres verstorbenen R.H. Weber in Frage kämen. Es hätte doch nichts genutzt, wenn ich auch ein paar Namen hätte empfehlen können, denn man hat hier die Liste in aller Geschwindigkeit fertig gemacht, ohne zahlreiche Erkundigungen einzuziehen. Inzwischen hat Lenz in München den Ruf erhalten, wird aber wohl nicht kommen. An zweiter und dritter Stelle stehen Ewald und Kossel. Die Kantgesellschaft will einen Preis ausschreiben für eine Arbeit über das Verhältnis der Rel.-Theorie zur Philosophie der Gegenwart; ich werde einer der Preisrichter sein. Als physikalischer Preisrichter möchte Vaihinger durchaus Wiener-Leipzig. Halten Sie ihn wohl für geeignet? Nun ist das Papier zu Ende, und ich habe Ihnen kaum etwas Interessantes gesagt. Aber ich freue mich doch, Ihnen wieder einmal meine innige Verehrung ausdrücken zu können. Meine ganze Familie wünscht Ihnen von Herzen Gesundheit und Wohlergehen. Machen Sie nicht noch einmal eine Nordreise, die Sie durch Rostock führt? Beste Empfehlungen an Ihre verehrte Frau Gemahlin.

Ihr dankbaren M. Schlick