Moritz Schlick an Albert Einstein

Rostock, d. 22. 2. 20

Orléansstr. 23

Lieber, hochverehrter Herr Professor,

Ihre Korrespondenz hat jetzt gewiss einen so gewaltigen Umfang, dass man es sich erst dreimal überlegen sollte, ob man auch recht tut, Ihnen die Lektüre eines Briefes zuzumuten oder gar mit einem besonderen Anliegen Ihnen zu nahenvornehmlich, wenn es sich nicht einmal um eine wissenschaftliche Frage handelt. In diesem Falle befinde ich mich heute, denn ich komme mit einer persönlichen Angelegenheitbei der freilich (so hoffe ich wenigstens) auf indirekte Weise schliesslich doch auch ein Nutzen für die Wissenschaft herausspringen kann.

In den schönen Tagen der Rostocker Fünfhundertjahrfeier erzählte ich Ihnen, wie Sie sich vielleicht entsinnen, dass der Philosoph des Züricher Polytechnikums, Medicus, Aussicht auf einen Ruf nach Giessen hätte, und Sie meinten darauf, dass es auf Grund Ihrer Fürsprache wohl möglich sei, dass als sein Nachfolger auch meine Wenigkeit in Betracht gezogen werden könnte. Vor einigen Tagen erzählte mir der Kollege Katz, dass nach Zeitungsmitteilungen der Giessener Ruf jetzt wirklich an Medicus ergangen ist. Nun weiss ich zwar nicht, ob er nach Giessen gehen wird, aber ich wollte doch nicht versäumen, Ihnen die Sache mitzuteilen und Sie zu bitten, dass Sie vielleicht bei den Zürichern ein gutes Wort für mich einlegen. Wollen Sie das tun und die Züricher, die wohl kaum etwas von mir gehört haben, darauf aufmerksam machen, dass hier oben im Norden ein Philosophiedozent mit leidlich gesundem Menschenverstand sitzt, der nichts lieber tun würde, als seine Tätigkeit um ein paar Breitengrade südlicher zu verlegen? Oder glauben Sie, dass die Abneigung gegen einen Deutschen ein zu grosses Hindernis bilden würde, auch wenn seine politische Gesinnung so neutral ist wie die meinige? Sie wissen, was die Erlangung einer Professur für mich und auch besonders für meine Familie bedeuten würdeund noch dazu in einem Lande voller jetzt unerreichbarer Schönheiten, bei deren bloßer Nennung uns manchmal die Sehnsuchtstränen in die Augen kommen. Der Gedanke, von Ihnen empfohlen zu werden, würde mich in jedem Falle ganz besonders glücklich machen; meine Dankbarkeit gegen Sie könnte freilich, glaube ich, nicht größer werden als sie schon ist. Medicus selber kenne ich nicht, und von den Züricher Herren nur Edgar Meyer. An ihn will ich in den nächsten Tagen auch schreiben, um ihm einen Wink zu geben; meine Frau wenigstens meint, ich dürfte das auf keinen Fall unterlassen. Das geistige Leben Zürichs könnte einem in der Rostocker Schläfrigkeit wohl verlockend erscheinen. An der Züricher Universität gibt es sogar einen Philosophen, Freytag, der, nach seinen Schriften zu urteilen, ein sehr verständiger und scharfsinniger Mann sein muss.

In der Zeitung lasen wir letzthin mehrfach über Ihre Kämpfe an der Berliner Universität. Die Studentenschaft scheint dort auch nicht reifer zu sein als bei unsfreilich nur ein schlechter Trost für uns!

Das Befinden meiner Familie ist dank der Milde des Februar recht gut. Die beiden Kinder lieben Onkel Einstein sehr und sprechen oft von ihm. Ich bin während der letzten Zeit fast unaufhörlich von Rostock abwesend gewesen, denn ich lese in dem jetzt laufenden Zwischensemester nicht und halte statt dessen in vielen Orten Mecklenburgs Volkshochschulkurse ab. Die Hörer scheinen sehr dankbar zu sein, und so wäre diese Tätigkeit auch ganz befriedigend, wenn sie nur nicht so viel Zeit frässe. Ich brenne vor Ungeduld, eine Reihe von Arbeiten fertig zu machen, die ich vorhabe, aber in den Wartesälen der Stationen und den Gaststuben ländlicher Wirtshäuser mache ich nur sehr, sehr langsame Fortschritte.

Meine Familie sendet Ihnen schönste Grüße, und auch ich begrüße Sie, mit der Bitte um beste Emmpfehlungen an Ihre Frau Gemahlin und den herzlichsten Wünschen für Ihre Gesundheit und Ihr Schaffen als Ihr Ihnen in Dankbarkeit und Verehrung ergebener

M. Schlick