Moritz Schlick an Hans Reichenbach

Kiel, 15. Aug. 1922

Sehr verehrter Herr Reichenbach,

Ihren Artikel (1) in der Revue philosophique habe ich mit größtem Genuss gelesen, und ich danke Ihnen für die Zusendung, die mir wirklich eine reine Freude verschafft hat. Die Gedankenführung ist, wie in allen Ihren Schriften, von unübertrefflicher logischer Klarheit, und es sind Ihnen wieder höchst glückliche Formulierungen gelungen. Alles, was Sie sagen, scheint mir nicht blos sachlich unanfechtbar, sondern auch glänzend ausgedrückt; und wenn ich trotzdem an einigen wenigen Stellen eine etwas andre Formulierung für praktischer halten würde, so ist das im Grunde eine Frage der Zweckmäßigkeit. So erscheint mir zweifelhaft, ob das Kausalprinzip so ausgesprochen werden sollte, dass es als ein „sehr spezieller Typus von Gesetzmäßigkeit“ erscheint (S. 22); doch das sind schliesslich Kleinigkeiten. Es freut mich besonders, dass Sie über die Frage der „Evidenz“ der Euklidischen Geometrie noch weiter nachgedacht haben; ich glaube, dass wir dabei jetzt ganz übereinstimmen. In dem Relativitäts-Seminar, das wir hier im verflossenen Semester abhielten, hatte ich, ganz ähnlich wie Sie es tun, das Problem so angefasst, dass ich den Hörern zeigte, Euklidische Raumverhältnisse seien ganz ebenso wenig „anschaulich vorstellbar“ wie irgendwelche nichteuklidischen. Euklidisch wird der Raum erst dadurch, dass zu dem anschaulich Erlebtem etwas begrifflich hinzugedacht wird, und man kann genau so gut etwas anderes hinzudenken, sodass er dann nichteuklidisch wird. Was man hinzudenkt, wird durch die Gewöhnung bestimmt, durch die Praxis des Messens, Bauens, Zimmerns, kurz, die Physik des praktischen Lebens. Als „reine Anschauung“ möchte ich eine Kombination von psychologischer Anschauung und Begriff natürlich nicht gern bezeichnen, ja es ist auch nur mit Vorsicht von einer „Kombination“ zu sprechen. Ich glaube, unsere Ansichten treffen hier völlig zusammen.

Ich darf Sie wirklich herzlich zu Ihren letzten beiden zusammenfassenden Darstellungen beglückwünschen. (2)

Für Ihren letzten Brief (3) habe ich Ihnen noch nicht gedankt, und ich habe darüber ein schlechtes Gewissen. Ich war in diesem Semester durch tausend Dinge, und nicht blos Arbeit, so in Anspruch genommen, dass meine Korrespondenz darunter leiden musste - verzeihen Sie mir bitte! Mit der Aufklärung meines Irrtums hinsichtlich des Rotationsproblems hatten Sie natürlich vollkommen recht, und mein Missverständnis erscheint mir heute unbegreiflich. Es war nur ein Beweis dafür, dass ich aus den relativistischen Gedankengängen ganz herausgekommen war (ich steckte damals, wie auch jetzt wieder, tief in der Ethik), aber während unseres Seminars habe ich mich wieder ganz hineingelebt. Ob ich in dem bevorstehenden Vortrag auf der Naturforscherversammlung irgend Erhebliches werde sagen können, weiss ich noch nicht; zur Vorbereitung habe ich nur wenig Zeit, da ich während der nächsten Wochen zwischen Kiel, Rostock und Wien unablässig hin und her reisen muss, um den grossen Umzug mit Frau, Kindern und den Möbeln eines ganzen Hauses zu bewerkstelligen. - Nun noch schnell einige persönliche, vertrauliche Mitteilungen. In der Frage der Wiederbesetzung des durch meinen Weggang nach Wien frei werdenden Lehrstuhles bin ich zuerst aus vollster Überzeugung in erster Linie für Sie eingetreten, aber schon in der Kommission stellte sich das Vorhandensein unüberwindlicher Widerstände heraus; wir einigten uns schliesslich dahin, wenigstens die Erteilung eines naturphilosophischen Lehrauftrages für Sie beim Ministerium zu beantragen, unter der Voraussetzung, dass Sie zu einer Umhabilitation nach Kiel bereit wären; aber auch durch diesen Plan hat die Vollfakultät einen Strich gemacht. Sie dürfen jedoch versichert sein, dass ich nicht aufhören werde, bei jeder sich bietenden Gelegenheit für Sie zu wirken. Damit ein solches Wirken aber auch Erfolg habe und nicht an manchen Vorurteilen scheitere, wie sie in Fakultäten nun einmal zu bestehen pflegen, erlaube ich mir Ihnen in bester Absicht folgendes zu sagen, ohne Ihnen natürlich irgendwie meinen Rat aufdrängen zu wollen. Es wäre nach meiner Ansicht sehr nützlich, wenn Sie einmal eine, wenn auch kürzere, Arbeit allgemeinen philosophischen Inhaltes publizieren würden, die Ihrem bisherigen Arbeitsgebiet etwas ferner liegt. Ich bin auch überzeugt, dass damit zugleich der Sache der Philosophie ein Dienst erwiesen werden könnte, da Ihr Scharfsinn gewiss auf jedem Gebiete Nutzen bringen wird, das Sie angreifen. Eine große Beruhigung für die meisten Fakultäten wäre es ferner, wenn Sie die Versicherung abgeben könnten, dass Ihnen auch „klassische“ Studien, das Lateinische, womöglich auch das Griechische, nicht ganz fremd sind. Ich weiss nicht, wie weit Sie zu solchen Zugeständnissen bereit wären; es ist aber zu bedenken, dass manche Fakultät mehr Gewicht darauf legt, einen tüchtigen Philosophieprofessor zu berufen, als einen tüchtigen Philosophen.

Mit den allerbesten Wünschen und kollegialen Grüßen

Ihr ergebener

M.Schlick