Moritz Schlick an Hans Reichenbach

Prof. Dr. M. Schlick

Kiel d. 27. I. 1922

Hohenbergstr. 1

Sehr geehrter Herr Kollege,

haben Sie schönen Dank für die freundliche Zusendung Ihrer Axiomatik (1) ! Sie wissen, wie lebhaft der Gegenstand mich interessiert. Die Möglichkeit einer reinen Lichtmetrik ist in der Tat höchst überraschend. Dass man ohne Maßstäbe auskommt, hat mich zwar nicht so erstaunt, dass aber ausserdem noch auch die Uhren entbehrt werden können, ist überaus bemerkenswert. Allerdings habe ich noch nicht die Muße gehabt, Ihre Axiome so durchzudenken, dass ich ihre Eindeutigkeit und Vollständigkeit restlos eingesehen hätte - Ihre ausführlichere Publikation wird mir das noch bequemer machen - , aber ich will einstweilen gern glauben, dass alles seine Richtigkeit hat.

Ihrem Wunsche, vor Sachverständigen über Ihre Arbeit zu berichten, will ich gern mit allen Mitteln zur Erfüllung helfen, die mir zu Gebote stehen, um so lieber, als sich mir dabei die Aussicht öffnet, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Dennoch muss ich Ihnen schreiben, dass ich nicht glaube, dass ein Vortrag hier in Kiel Ihnen bieten würde, was Sie suchen. Es liesse sich zwar gewiss ohne große Schwierigkeit arrangieren, dass Sie in der hiesigen naturforschenden Gesellschaft sprächen, aber Fachleute, die sowohl in der Rel.-Theorie wie in den Fragen der Axiomatik wirklich zu Hause sind, würden Sie hier kaum einen einzigen finden. Mit dem bloßen Interesse für Naturphilosophie, das hier natürlich besteht, ist es ja nicht getan. Ich habe bisher so gut wie nichts tun können, um dies Interesse zu pflegen, da ich erst seit Oktober hier bin und nur philosophiegeschichtliche Vorlesungen gehalten habe, auch mehrfach verreist und krank war. Ich möchte Ihnen also eigentlich nicht zuraten, die Mühen der Reise für einen Vortrag in Kiel auf sich zu nehmen, obgleich dadurch für mich die Freude hinausgeschoben wird, Ihre Bekanntschaft zu machen. Spätestens können wir uns vielleicht auf der Leipziger Naturforscherversammlung begegenen, an der mitzuwirken man mich eingeladen hat. Bei dieser Gelegenheit muss ich Sie übrigens vielmals um Entschuldigung bitten, dass ich ganz versäumt habe, Ihr Schreiben vom vorigen Sommer zu beantworten, in dem Sie eine Zusammenkunft in Jena oder Erlangen vorschlugen. Meine Reise nach Süddeutschland verlief damals in großer Hast, und eine Begegnung hätte sich bei meinem Reiseplan nicht durchführen lassen. In der Unruhe jener Tage habe ich aber versäumt, Ihnen wenigstens dies mitzuteilen, und diese Unhöflichkeit hat etwas auf meinem Gewissen gelegen, sodass ich mich freue, dass mir Ihr Brief Gelegenheit gibt, die Sache aufzuklären. - Ich glaube, dass Sie einen größeren Kreis von Sachverständigen für Ihren Vortrag eigentlich nur in Göttingen finden könnten, vielleicht auch in Berlin. Zum Herbst werde ich nach Wien übersiedeln (auf den Machschen Lehrstuhl), falls nicht inzwischen in Österreich katastrophale Ereignisse eintreten - dort liesse sich vielleicht auch ein geeigneter Boden für Ihre Probleme finden. Aber bis dahin wird ja hoffentlich auch Ihre ausführliche Publikation längst erschienen sein.

Mit den besten Wünschen und kollegialem Gruß

Ihr ergebenster

M. Schlick