Albert Einstein an Moritz Schlick

ALBERT EINSTEIN

BERLIN W, den 28. November 1930

HABERLANDSTR. 5

Herrn Professor Dr. M. Schlick

Wien IV

Prinz Eugen Str. 68

Lieber Herr Schlick!

Ich habe Ihre Arbeit (1) sofort gelesen und in der Hauptsache zutreffend gefunden. Vergröbernd kann ich es so sagen:

Die Wissenschaft sucht allgemeine Relationsaussagen, welche mögliche Sinnenerlebnisse derart verknüpfen, dass jene Aussagen sich als zutreffend oder nicht zutreffend bezw. zum richtigen Vorhersagen geeignet in der Empirie erweisen können. Mehr sagt eigentlich die Forderung der Gesetzlichkeit im allgemeinsten Sinne auch nicht aus.

Ich stimme sachlich mit Ihnen nicht überein in folgenden Punkten:

1. Auch die Quantentheorie kennt derartige Relationsaussagen, welche nicht statistischer Natur sind, sondern schon auf eine einmalige Realisierung angewendet etwas ganz Bestimmtes aussagen (z.B. Impuls-Energie-Satz angewandt auf einen Elementarprozess).

2. Ich glaube nicht, dass das „statistische Gesetz“ ein widerspruchsvoller Begriff sei. Es ist das eben eine Limiten-Aussage, die sich auf die häufige Wiederholung einer in ganz gewisser Weise definierten Anordnung bezieht. Ob man solche Gesetze als deterministische bezeichnen will oder nicht, ist Frage der Nomenklatur. Ueblich ist es, sie als nicht deterministisch zu bezeichnen.

3. Zeitliche Aussagen, insoweit sie als Relations-Aussagen aufgefasst werden können, welche sich unmittelbar auf Sinnenerlebnisse beziehen, sollen vor anderen Relations-Aussagen keine Sonderrolle spielen. (Die gegen Reichenbach bezüglich Nichtumkehrbarkeit des Zeitlichen gerichtete Kritik billige ich).

Allgemein betrachtet entspricht Ihre Darstellung insofern nicht meiner Auffassungsweise, als ich Ihre ganze Auffassung sozusagen zu positivistisch finde. Die Physik liefert zwar Relationen zwischen Sinnenerlebnissen, aber nur mittelbar. Ihr Wesen ist für mich in dieser Aussage keineswegs erschöpfend gekennzeichnet. Ich sage Ihnen glatt heraus: Die Physik ist ein Versuch der begrifflichen Konstruktion eines Modells der realen Welt sowie von deren gesetzlicher Struktur. Allerdings muss sie die empirischen Relationen zwischen den uns zugänglichen Sinnenerlebnissen exakt darstellen; aber nur so ist sie an letztere gekettet.

Auch ich bewundere die Leistungen der Quantentheorie in Schrödinger-Heisenberg-Dirac’scher Prägung, glaube aber bestimmt, dass man sich mit dieser Betrachtungsart für die Dauer nicht wird behelfen wollen und können. Diese Theorie liefert nämlich überhaupt kein Modell der realen Welt. (Die in ihr funktionell verknüpften Elemente stellen nicht die reale Welt dar, sondern nur Wahrscheinlichkeiten, welche sich auf Erlebnisse beziehen). Kurz ich leide unter der nicht reinlichen (2) Scheidung von Erlebnisrealität und Seinsrealität. Auch bin ich fest davon überzeugt, dass das „statistische Gesetz“ als Basis physikalischen Gesetzes-Ausdrucks eines schönen Tages überwunden werden wird. Ihre Meinung, dass das „statist. Gesetz“ überhaupt kein Gesetz sei, teile ich, wie gesagt, nicht.

Sie werden sich über den „Metaphysiker“ Einstein wundern, aber jedes vier- und zweibeinige Tier ist in diesem Sinne de facto Metaphysiker. Herzlich (und in Eile) grüsst Sie

Ihr A. Einstein.

P.S. Adresse im Jan. u. Februar, Institute of Technology, Pasadena

Ich lese Ihr MS auf der Reise mit Herrn Meyer und […] (3) .