Albert Einstein an Moritz Schlick

7. VI. 20.

Lieber Herr Schlick!

Heute morgen erhielt ich Ihren freundlichen Brief und Ihr Manuskript

Schlick, M.: „Naturphilosophische Betrachtungen über das Kausalprinzip“, in: Die Naturwissenschaften, Jg. 8, 1920, S. 461-474.

. Mit der Einladung zum Philosophen-Kongress steht es doch wesentlich anders als der geriebene Vaihinger glauben machen wollte. Er wollte wissen, wen er von Kennern der Theorie noch einladen könnte; da nannte ich natürlich Ihren Namen. Aber davon, dass ich Ihre oder sonst jemands Anwesenheit in Halle gewünscht hätte, kann gar keine Rede sein. Mir war die ganze Sache wenig reizvoll, und ich war froh, eine triftige Ausrede zu haben, um der ganzen Rederei dort zu entgehen.

Nun einige Bemerkungen zu Ihrem wunderbar klar geschriebenen Manuskript

Der Aufsatz gefällt mir sehr, trotz der nachfolgenden Nörgelei. Es sind eben die strittigen Punkte immer am interessantesten!

. Mit Ihrer Auffassung von Kausalität bin ich fast, aber doch nicht ganz einverstanden.

Nehmen Sie einmal an, wir würden die Gravitation nur aus der Bewegung von Kometen kennen, die in hyperbolischen (einmaligen) Bahnen unter Ablenkung an der Sonne vorbei liefen. Es möge ferner nicht vorkommen, dass zwei Kometen annähernd dieselben Bahnebenen haben, dass also Wiederholungen gleicher Vorgänge nicht stattfinden. Könnten wir dann den Vorgang nicht kausal erfassen? Doch wohl! Man würde z.B. die dem Kepler’schen Gesetz entsprechenden Gesetze hypothetisch einigen Fällen entnehmen. Diese würden dann in der Folge bestätigt, und jeder Naturforscher würde diesen Gesetzen den Charakter von Naturgesetzen zuerkennen, obwohl die Wiederholung gleichen Geschehens niemals konstatiert wurde. So könnte prinzipiell die ganze Erfahrungswelt beschaffen sein, ohne dass wir das Kausalitätsprinzip aufgeben müssten, wenn wir vielleicht auch schwerer darauf verfallen wären, es mit ihm zu versuchen.

Ferner die Frage der Verletzung des Kausalitätspostulates durch das Trägheitsgesetz. Sie haben in Ihrem Büchlein mit Recht hevorgehoben, dass ich bei jener Darlegung zu weit gegangen bin. Ihre jetzige Auffassung des Sachverhaltes kann ich nicht billigen.

Richtig wäre es nach meiner Auffassung zu sagen: Die Newton’sche Physik muss der Beschleunigung objektive Realität zuerkennen, unabhängig vom Koordinatensystem. Dies ist nur möglich, wenn man den absoluten Raum (bezw.) Aether als etwas Reales betrachtet. Das thut Newton auch folgerichtig.

Sie aber sagen einfach: Gestalt ist kein Vorgang. Es handelt sich nicht um „Gestalt“ sondern um Verharren in einer „Gestalt“. Ich muß antworten: Verharren im Gleichgewicht in einer bestimmten „Gestalt“ ist wohl ein Vorgang im physikalischen Sinne. Ruhe ist ein Bewegungsvorgang, bei welchem die Geschwindigkeiten dauernd null sind, ein Bewegungsvorgang, der für unsere Überlegungen jedem anderen prinzipiell gleichwertig ist. In der That finden ja auch Bewegungsvorgänge mit Bezug auf beide rotierende Himmelskörper verschieden statt (z.B. Foucault’sches Pendel, Umlauf einer Mondes etc.).

Es ist gleich, ob sie dasjenige, was Sie herbeiziehen müssen, um der Beschleunigung Realität zu geben, absoluten Raum, Aether oder bevorzugtes Koordinatensystem (obwohl man letzteres nicht wohl als etwas Reales der Kausalreihe wird einverleiben wollen) nennen. Unbefriedigend bleibt der Umstand, dass dieses Etwas nur einseitig in die Kausalreihe eingeht. Ob man das Kausalgesetz als befriedigt zu erklären hat oder nicht, hängt von Subtilitäten in der Definition des Kausalgesetzes ab. Der absolute Raum Newtons ist selbständig, durch nichts beeinflussbar, das guv-Feld der allgemeinen Relativitätstheorie Naturgesetzen unterworfen, von der Materie in seinen Eigenschaften bestimmt (nicht nur bestimmend). Das haben Sie übrigens auf Seite 27 meisterhaft ausgesprochen.

Zu Seite 28 oben. Es scheint mir die Behauptung nicht berechtigt, dass die Gravitationsfelder nicht im gleichen Sinne als beobachtbar anzusehen seien wie die Massen; der „Prozess-Charakter“ der letzteren erscheint in diesem Zusammenhang unwesentlich. Wesentlich ist, dass man überhaupt nicht von „allen Eigenschaften“ eines Körpers reden kann (weil es davonviele gibt); gehört er einem theoretischen System an, so gibt es immer Eigenschaften, die Folge der übrigen sind, gleichgültig ob dieses System mit „Prozessen“ operiert, oder sich mit statischen Betrachtungen begnügt (der Unterschied scheint mir nicht prinzipiell).

Die Einengung der Kausalität auf Fortsetzbarkeit des in einem raumartigen Schnitt gegebenen ist zwar nicht in meinem Sinne; aber der Standpunkt ist jedenfalls zulässig. Man braucht einen Fortschritt der Naturgesetze darüber hinauswenn er sich einmal als möglich erweisen sollte, nicht als Fortschritt des kausalen Erkennens zu bezeichnen. Aber warum soll man es nicht? Nur um die Zeit auszuzeichnen? Es wäre sehr wohl möglich, dass die Freiheit der Wahl der Anfangsbedingungen, welche vollständigere Naturgesetze übrig lassen, eine viel beschränktere sein wird, als es beim heutigen Standpunkt unserer Kenntnis der Fall zu sein scheint. Dann würde man wohl die Gesetzlichkeit innerhalb des Zeitschnittes auch als eine „kausale“ erklären, um zwischen zeitlicher und räumlicher Ausdehnung keinen unnötigen prinzipiellen Unterschied zu machen.

Über Ihre Einladung hab ich mich sehr gefreut. Wenn ichs einrichten kann, mache ich Ihnen und Ihrer Familie schnell einen kleinen Besuch. Ich glaube aber nicht, dass es gehen wird, weil ich „zeitgeizen“ muss wie ein richtiger Europäer.

Sie und die Ihren grüsst herzlich

Ihr A. Einstein.